Wie zu Sowjetzeiten, so ist auch heute das Thema sexuelle Orientierung in der armenischen Gesellschaft ein Tabu. Wer von den traditionellen Vorstellungen abweicht, muss zwar nicht mit Gefängnis, aber mit gesellschaftlicher Ächtung und mit Gewalt rechnen.
So erging es der Sängerin Armine Oganezova. Die unter dem Namen Tsomak bekannte Künstlerin musste in diesem Sommer aus Armenien fliehen, weil sie sich ihrer Gesundheit und auch ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnte. Sie bekennt sich offen zu ihrer Homosexualität. Ihr Pub "Do it yourself" (DIY) im Stadtzentrum Jerewans war ein Treffpunkt der kleinen alternativen Szene Jerewans.
Am frühen Morgen des 8. Mai 2012 warfen drei Jugendliche Brandsätze in den Pub. Da die Bar geschlossen war, wurde niemand verletzt. Zwei der drei mutmaßlichen Täter wurden wenige Stunden später festgenommen. Sie selbst bezeichnen sich offen als Neonazis.
Offene Unterstützung aus der Politik
Doch die mutmaßlichen Täter erhielten Unterstützung aus der Politik. Die Parlamentsabgeordneten Artsvik Minasyan und Hrayr Karapetyan zahlten nicht nur die Kaution zur Freilassung der beiden. Die beiden Mitglieder der linksnationalistischen Partei Armenische Revolutionäre Föderation/Daschnakzutjun äußerten auch öffentlich Unterstützung für die Tat. Minasyan sagte Reportern, die jungen Männer hätten "auf angemessene Weise und in Übereinstimmung mit den Werten unserer Gesellschaft und nationalen Ideologie" gehandelt (siehe Gay Rights Under Attack in Armenia). Zwar sei es falsch gewesen, materiellen Schaden anzurichten. "Aber", so Minasyan, "ich habe wiederholt gesagt, dass Tsomak und ihresgleichen destruktiv für unsere Gesellschaft sind". Vize-Parlamentsprecher Eduard Sharmazanov von der regierenden Partei der Republikaner äußerte ebenfalls Zustimmung für den Anschlag auf den Club.
Der Chef des Instituts für Zivilgesellschaft, Artak Kirakosyan, warnte, die politische Unterstützung für die Täter sei sehr gefährlich. "Sie selbst wissen nicht, was für Kräfte sie damit wecken, und sie werden nicht in der Lage sein, diese zu stoppen." Transparency International und mehrere andere zivilgesellschaftliche Organisationen verurteilten die Reaktion der Politik als "zutiefst schockierend" und als Bruch mit der Verpflichtung Armeniens auf internationales Recht. (NGO statement against fascism and intimidation) Auch die Frauenrechtsorganisationen Women's Resource Center und die LGBT-NGO PINK Armenia (Public Information and Need of Knowledge) protestierten. Einige Botschaften in Jerewan äußerten Besorgnis.
Auch einige Mitglieder der wirtschaftsliberalen Erbe-Partei zeigten Solidarität mit Tsomak und den Gästen ihrer Bar. Sonst jedoch hielt sich die Regierung zurück. Manche Aktivisten vermuten, dass die Regierung im bereits beginnenden Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2013 die neonazistischen Gruppen mit ihren Parolen gegen Minderheiten zumindest gewähren lassen, um von anderen Problemen im Land abzulenken.
Aktivisten vermuten, dass die Zivilgesellschaft als Bedrohung für die Aufrechterhaltung der Macht gesehen wird. In den vergangenen Monaten konnten zivilgesellschaftliche Organisationen einige für Armenien spektakuläre Erfolge verzeichnen. So gelang es in Jerewan, den Bau eines Einkaufszentrums in einem Park zu verhindern. Außerdem konnten Aktivisten die Bewohner eines abgelegenen Dorfes gegen einen Konzern mobilisieren, der in unmittelbarer Nähe Rohstoffe abbauen wollte. Des weiteren musste ein Abgeordneter sein Mandat zurückgeben. Gegen ihn hatte es über mehrere Tage Proteste gegeben, weil seine Leibwächter im Streit einen Militärarzt erschlagen hatten. Nun gibt es Befürchtungen, dass die Regierung neonazistische Gruppierungen gewähren lassen und diese womöglich gegen die regierungskritischen Aktivisten mobilisieren könnte.
In der Atmosphäre der Straflosigkeit wurde der DIY-Club am 15. Mai 2012 ein weiteres Mal attackiert. Junge Männer beschmierten die Wände mit Hakenkreuzen und anderen Sprüchen. Tsomak beklagte in einem Interview mit dem Institut für Kriegs- und Friedensberichterstattung: "Ich erhalte weiter Drohungen. Sie sagen, sie würden mich verbrennen, mich töten und so weiter." (siehe Gay Rights Under Attack in Armenia) Angegriffen werde sie wegen ihrer liberalen Ansichten und weil sie in der Türkei ein Rockkonzert gegeben und dort an einer Gay Parade teilgenommen hatte. Tsomaks Pub musste inzwischen schließen. Sie lebt nun in Schweden.
Einsatz für Minderheitenrechte nur unter Polizeischutz
Angesichts dieser aufgeheizten Stimmung war es ein Risiko für PINK Armenia und das Women's Resource Center, am 21. Mai einen seit zwei Jahren geplanten Marsch der Vielfalt in Jerewan abzuhalten. Anlass war der international begangene Tag der kulturellen Vielfalt. Die Organisatoren legten Wert darauf, dass es um Vielfalt in jedem Sinne gehe. So war auch eine Veranstaltung mit Diaspora-Armeniern aus dem Irak geplant, die berichten sollten, wie sie sich an die Kultur des Irak angepasst hatten. Doch in der Öffentlichkeit wurde Vielfalt weitgehend mit homosexuell gleichgesetzt, erklärt Marine Margaryan, die Projektkoordinatorin bei PINK Armenia ist.
Der Marsch der Vielfalt konnte nur unter Polizeischutz stattfinden. Zahlreiche Gegendemonstranten (siehe Neo-nazi attack Diversity march in Armenia capital Yerevan calling it "gay pride") sangen zunächst patriotische und nationalistische Lieder. Während des Marsches bespuckten, beschimpften und bedrohten sie die Teilnehmer. Nach Angaben eines Beobachters erschienen auch drei Priester der Armenischen Kirche. Einer sagte vor Medienvertretern, die Armenische Kirche sei gegen Homosexualität. Er sprach sich dennoch für einen friedlichen Protest aus.
Die Teilnehmer des Marschs der Vielfalt fanden schließlich Schutz in einer Galerie am Charles-Aznavour-Platz. Das Gebäude durften sie nur noch über den Hinterausgang verlassen, weil die Polizei ihren Schutz nicht mehr garantieren wollte. Alle in Zusammenhang mit dem Tag der kulturellen Vielfalt geplanten Veranstaltungen wurden daraufhin abgesagt.
Filmvorführung gescheitert
Auch die Delegation der Europäischen Union in Jerewan und die Deutsche Botschaft scheiterten mit einem Vorhaben an der feindlichen Stimmung gegenüber sexuellen Minderheiten im Land. Geplant war die öffentliche Vorführung der Filmkomödie "Parada" in Jerewan. In dem mit zahlreichen Publikumspreisen ausgezeichneten Werk des Regisseurs Srdjan Dragojevic geht es um die Organisation einer Gay Pride in Belgrad. (The Parade)
Doch die gemeinsame Ankündigung der Deutschen Botschaft und der EU-Delegation zog öffentlichen Protest nach sich. Die im Herbst geplante Vorführung musste immer wieder verschoben und an andere Orte verlegt werden, denn die Besitzer mehrerer Veranstaltungsorte weigerten sich oder zogen ihre Zusage kurzfristig zurück, so das Restaurant The Club, das Puppentheater, das Kino Moskau und das Congress Hotel. Die armenische Regierung wollte nicht aktiv werden. Eine öffentliche Vorführung des Films fand bislang nicht statt.
Eine zutiefst verschlossene Gesellschaft
Die Ereignisse des Jahres 2012 spiegeln eine geradezu feindliche Einstellung der Mehrheit in Armenien gegenüber sexuellen Minderheiten wider. Eine Umfrage der Organisation PINK Armenia in den Städten Jerewan, Vanadzor und Gjumri im Jahr 2011 ergab, dass 72 Prozent der 1.189 Befragten glauben, der Staat sollte Maßnahmen zum Kampf gegen Homosexuelle ergreifen.
Armenier selbst beschreiben ihre Gesellschaft als zutiefst konservativ und verschlossen. Seit Jahrzehnten machen religiöse und ethnische Minderheiten einen verschwindend geringen Anteil an der Bevölkerung aus. Wer zur Gesellschaft gehören will, muss sich der traditionellen armenischen Norm anpassen, sei es hinsichtlich Sprache, Kultur, Geschlechterrolle, Kleidung oder Religion.
Selbst Diaspora-Armenier, die sich in den vergangenen Jahren im Heimatland ihrer Familien niederließen, berichten von Ausgrenzung und Diskriminierung. Sie seien keine richtigen Armenier und könnten das Land und seine Menschen deshalb nicht verstehen, werde ihnen immer wieder vorgeworfen. Ein iranischer Student beklagte sogar, dass er in Teheran größere Toleranz gegenüber seiner modischen Kleidung und seinen langen Haaren erlebe als in Jerewan. In Armenien werde er immer wieder abwertend als schwul beschimpft, obwohl er eine armenische Freundin habe.
Eine Nation, die sich im permanenten Kriegszustand fühlt
Der Konservatismus erklärt sich indes nicht nur aus dem Sowjeterbe. Vielmehr besteht auch mehr als 20 Jahre nach der Unabhängigkeit in der armenischen Gesellschaft noch immer eine Wahrnehmung der permanenten Bedrohung der eigenen Sprache, Religion, Kultur und Ethnie, wie sie in Jahrhunderten der Fremdherrschaft existierte. Hinzu kommt das noch immer allgegenwärtige und weiter lebendig gehaltene Trauma der massenhaften Vertreibung und Tötung von Armeniern durch die Türken im Jahre 1915.
"Konservatives Verhalten für Frauen war einstmals gerechtfertigt, weil andere Völker die Armenier bedrohten mit Kidnapping, Vergewaltigung oder Zwangsverheiratung mit Muslimen. Aber auch wenn wir heute einen eigenen unabhängigen Staat haben, wurden diese traditionellen Anforderungen an Frauen beibehalten", erklärt Marine Margaryan, Projektkoordinatorin bei PINK Armenia.
Eine wesentliche Rolle für die Wahrnehmung einer äußeren Bedrohung spielt der seit mehr als 20 Jahren ungelöste Konflikt mit dem östlichen Nachbarn Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach sowie das noch immer schwierige Verhältnis zum westlichen Nachbarn Türkei. Diese außenpolitischen Probleme nutzt die Staatsführung jedoch auch, um innenpolitischen Druck auf Regierungskritiker auszuüben.
Das permanente Beschwören einer Nation im Kriegszustand, die vor dem Feind zusammenrücken muss, lässt wenig Toleranz zu. So dient die Betonung der Wehrhaftigkeit des Landes dazu, im Besonderen schwule Männer als Gefahr für die Stabilität Armeniens darzustellen, da sie sich ja oft dem Dienst verweigerten. "Tatsächlich ist es aber so, dass viele Schwule zur Armee gehen und sogar Ehrungen für ihren Dienst bekommen, ohne sich zu outen. Andererseits ist es der Bevölkerung schwer zu erklären, dass viele Schwule den Armeedienst vermeiden wollen, weil das Umfeld in der Armee nicht sicher für sie ist", sagt Margaryan.
Hinzu kommt, dass LGBT-Personen vorgeworfen wird, sie verschärften die demografischen Probleme Armeniens. "Sie werden praktisch für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht", so Margaryan. "Tatsächlich geht es jedoch darum, von den eigentlichen Problemen wie der sozialen Lage der Menschen, der Korruption und dem Oligarchentum im Land abzulenken", ergänzt Margaryan.
Zwar wurde die Bestrafung homosexueller Handlungen 2003 abgeschafft. Doch gibt es keine Gesetzgebung gegen Hassreden, Verbrechen aus Hass oder Diskriminierung von Minderheiten. So wird gegen die Attentäter, die den Club DIY angegriffen haben, auch nur wegen Sachbeschädigung, nicht aber wegen des offenkundigen Motivs für die Tat ermittelt.
Mangelnde Unterstützung von anderen Menschenrechtlern
Für die Aktivisten, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten und für Frauenrechte einsetzen, kommt erschwerend hinzu, dass sie selbst bei anderen Menschenrechtlern in Armenien kaum Unterstützung finden. So standen die beiden Organisationen PINK Armenia und Women's Resource Center recht allein da, als sie gegen die Attacken auf die DIY-Bar protestierten und als sie den Diversity March organisierten. "Manche Menschenrechtsaktivisten sind sogar homophob. Sie zeigen es nicht so sehr, aber man kann es fühlen. Man spürt es, wenn sie Witze machen", erzählt Lara Aharonian,
Direktor, Women's Resource Center in Jerewan.
Aharonian verweist zudem darauf, dass es in der armenischen Diaspora sehr einflussreiche Gruppen gibt, die noch stärker an Traditionen und konservativen Werten festhalten als die Menschen in Armenien. Im Libanon zum Beispiel, wo sie selbst aufgewachsen ist, sei die armenische Gemeinde sehr darauf bedacht, die eigene Kultur und die Werte zu bewahren. Aber auch in den USA fänden sich Gemeinden, die ein überkommenes und unrealistisches Bild der Heimat ihrer Vorfahren pflegten, so Aharonian. In der politischen Arbeit konzentrierten sich diese Gruppen vor allem darauf, dass die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannt werden. Würden jedoch aktuelle Probleme in Armenien angesprochen, so betrachteten diese Gruppen dies als Beschädigung des Ansehens ihres Heimatlandes.
Ultra-konservative Kräfte in der Diaspora
Ein Hinweis auf die Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten auch innerhalb der armenischen Diaspora in den USA gibt ein Ereignis in Los Angeles. Dort fand Anfang Oktober ein Kongress über die Zukunft Armeniens im 21. Jahrhundert statt, den die Armenische Revolutionäre Föderation organisiert und finanziert hatte. Der Direktor von PINK Armenia, Mamikon Hovsepyan, sollte dort einen Vortrag über LGBT-Rechte in Armenien halten, wie er dies bei ähnlichen Diaspora-Veranstaltungen in New York und San Francisco zuvor getan hatte. Die Organisatoren verwehrten ihm den Auftritt jedoch. Zur Begründung hieß es, seine Sicherheit und die der Zuhörer sei nicht gewährt gewesen. Jedoch protestierten andere Podiumsgäste und sagten ihre Vorträge ab.
Trotz der geringen Unterstützung und des fehlenden Verständnisses für LGBT-Rechte in Armenien, sowie in weiten Teilen der armenischen Diaspora halten Aktivisten wie Aharonian oder die Mitarbeiter von PINK Armenia an ihren Zielen fest. Aharonian führt als einen positiven Aspekt an, dass sich doch zahlreiche heterosexuelle Aktivisten für LGBT-Rechte einsetzen. Dies sorge meist für Verwirrung, hin und wieder aber auch auch für ein Einsehen bei Gegnern, sagt Margaryan.
PINK Armenia konstatierte beim Monitoring der Medien in den vergangenen zwei Jahren, dass LGBT-Personen nicht mehr grundsätzlich mit Schimpfwörtern benannt werden, sondern dass immer häufiger Begriffe wie Homosexuelle verwendet würden. Dazu beigetragen hätten Kurse, in denen Journalisten über das Thema und die Begrifflichkeiten aufgeklärt worden seien.
Die Aktivisten wollen sich nun darauf konzentrieren, zunächst unter den anderen Menschenrechtsaktivisten Aufklärung über die Rechte von Minderheiten zu betreiben. PINK Armenia befasst sich mit der juristischen Aufarbeitung der Attacke auf den DIY-Club sowie mit der Forderung an die Politik, Gesetze gegen die Diskriminierung von Minderheiten einzuführen. Ein neuer Diversity March ist bis auf weiteres nicht vorgesehen.